Nach einem kurzen Zwischenstopp in Riga Ankunft in Tbilisi um 4.30 Uhr. Zwischen Flughafen und Stadt liegt jetzt nur noch eine wahrhaft höllische Taxifahrt: Mit 160 rast der Fahrer über die holprige Schnellstraße namens George Bush-Boulevard (!). Dieser endet in einem U-Turn, wo der Chauffeur auf 0 abbremst, was Anlass zu denken gibt: jetzt ists geschafft, aber nein, er rast weiter in die Stadt. Ist das ein Rennen, haben die sich am Flughafen verabredet? Ein Nahtoderlebnis jagt das nächste – so erreicht man den Rustaweli Prospekt, während der Fahrer sich alle 100 Meter auf orthodoxe Weise, also dreimal hintereinander, bekreuzigt. Würde ihm gern sagen, dass das Leben
nach dem Tod allgemein überschätzt wird und mir das davor im Moment völlig ausreicht. Aber er ist weder im Fahrstil noch im Bekreuzigen zu stoppen. Später erfahren wir: Der Bekreuzigungsvorgang ist hier Usus, wenn man an einer Kirche oder sonstigen heiligen Stätte vorbeikommt – egal, wo und wie schnell man gerade vorbeirast!
Im Hostel werden wir freundlichst begrüßt vom Rezeptionisten, einem jungen Tänzer. Wenig nüchtern, dafür sehr redselig und kontaktfreudig, erklärt er, dass man in Georgien mit einem Glas willkommen geheißen wird. So stehen wir morgens um halb 6 in der Küche einer zum Hostel umfunktionierten Gründerzeitwohnung mit einem Glas süßem georgischen Rotwein in der Hand. Zum Glück gibt es dann noch Kaffee auf dem Balkon mit schönster Aussicht auf den Rustaweli Prospekt, gegenüber die Oper, die mich, wahrscheinlich wegen der schwarz-weißen Querstreifen, ein bisschen an Italien erinnert.
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Blick vom Balkon: Paliaschwili-Operntheater |
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Nach ein paar Stunden Schlaf und Frühstück im wunderschönen
Innenhof-Café eines englischen Buchladens den Rustaweli Prospekt
hinunter in Richtung Altstadt.
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Vor dem Parlament |
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Als Analphabet unterwegs: Wenn es Straßenschilder gibt, was nicht
überall der Fall, kann man sie nicht lesen. Dasselbe gilt für Busse und
Fahrpläne.
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Metroeingang |
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Copyshop |
In der Altstadt, die zur Hälfte komplett saniert oder gerade Baustelle ist, tummeln sich einige wenige Touristen. Wir wundern uns über ziemlich europäische Cafépreise, aber die ganze Sanierung muss sich irgendwie lohnen. So wähnt man sich manchmal fast in Prenzlauer Berg, die nächste Ecke erscheint wenig touristisch und aufgehübscht, die Architektur insgesamt sehr uneinheitlich: russische Häuser wie in Kars (Nordosttürkei) neben mitteleuropäischen Gründerzeithäusern und öffentlichen Gebäuden, eine ehemalige Karawanserei neben einem postmodernen Hotelklotz, sowjetische Bauten wie Schulen, Kinos, Kultur- und Jugendzentren neben georgischen Häuser mit den typischen Holzbalkonen bzw. -galerien, dazwischen georgische Kirchen aller Zeitalter.

Am Abend flüchten wir vor Gewitter in ein Café, in dem es nach beharrlichem Nachfragen neben verschiedenen Exportbieren auch georgisches Bier vom Fass gibt. Unterdessen verwandelt sich die Straße in einen reißenden Strom. Während der Sintflut fällt kurzzeitig der Strom aus und Kerzen werden verteilt. Nach dem Gewitter geht es zum Essen in einen georgisch-ungarischen Pub um die Ecke. Bedröhnt von Michael Jackson nehmen wir unser erstes Essen in Georgien zu uns: Schaschlik.
Später im Hostel sitzt eine englischsprachige Gruppe in der Lounge, d.h. dem spärlich postmodern möblierten Gründerzeitwohnzimmer mit Kronleuchter und Parkett. Die Gruppe besteht aus Englischlehrer/innen aus den USA, GB, Australien und Kanada, die für ein halbes Jahr in verschiedenen Städten Georgiens gearbeitet haben und jetzt ihr letztes Wochenende in Tbilisi feiern. Unser tanzender Wirt, der seit 36 Stunden nicht geschlafen hat, wundert sich, wie eine Gesellschaft, die so langweilig feiert, mit nur einer Flasche Wein auf dem Tisch und ohne Zigaretten oder sonstige Rauchwaren, so laut und ausdauernd sein kann ...
Meine Nachtlektüre bildet einen angenehmen Kontrast zum Hostelgeplänkel: Alexandre Dumas kämpft sich Mitte des 19. Jahrhunderts von Norden durch den "wilden Kaukasus" in Richtung Baku und Tbilisi ...
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Ehemalige Karawanserei |
"Diese Karawanserei bietet einen merkwürdigen Anblick. Durch die Tore ziehen mit Kamelen, Pferden und Eseln die Vertreter aller Nationen des Orients und des nordöstlichen Europa ein: Türken, Armenier, Perser, Araber, Hindu, Chinesen, Kalmücken, Turkomanen, Tartaren, Tscherkessen, Georgier, Mingrelier, Sibirier. Und jede Nation hat ihr eigenes Gepräge, ihre Tracht, ihre Waffen, ihre Sitten und zumal ihre Kopfbedeckung, die im allgemeinen am längsten der launischen Mode zu widerstehen pflegt."
Alexandre Dumas über Tbilisi in: Gefährliche Reise durch den wilden Kaukasus. 1858-1859. Edition Erdmann: Lenningen 1995, S. 195